»Jacken und Gepäckstücke haben keinen eigenen Anspruch auf einen Sitzplatz«
Bahnfahren macht immer noch Spaß
Um das Kurioses rund um das Zugfahren ging es bereits im ersten Teil, aber da dieses Thema einer unendlichen Geschichte nahekommt, dürfen auch in diesem Band weitere Anekdoten aus dem Bereich ›Bundesbahn‹, äh ›Bimmelbahn‹, äh ›Deutsche Bahn‹ - jetzt hab ich’s - nicht fehlen. Jeder Pendler, der 220 oder mehr Arbeitstage im Jahr mit der Bahn zur Arbeit und wieder nach Hause fährt, wird jetzt zwar müde lächeln, weil ihm täglich die folgenden beschreibens- oder aber eher beschreienswerten Erlebnisse widerfahren. Aber im Gegensatz zu ihm habe ich sie notiert und kann sie Ihnen nun zum Besten geben.
Im Zuge vergangener Fahrten waren zunächst zwei Ankündigungen bemerkenswert:
Witzig fand ich die Durchsage in der seinerzeit völlig überfüllten bayerischen Regiobahn von München nach Salzburg, die damals noch wohlklingend ›Meridian‹ hieß: »Jacken und Gepäckstücke haben keinen Anspruch auf einen eigenen Sitzplatz. Bitte nehmen Sie diese auf den Schoss oder legen diese in die Gepäckablagen, damit auch stehende Fahrgäste noch einen Platz finden.« Das – so fand ich - war echt gut gemacht.
Als weitaus weniger witzig empfand ich die Durchsage auf der Rückfahrt von Bad Reichenhall, als ich in München in den ICE nach Essen steigen wollte: »Wegen Personalmangels wird der Zug eine noch nicht absehbare Verspätung haben. Wir warten auf Personal, welches aus einem ICE aus Berlin übernommen werden soll.« Ich traute meinen Ohren kaum. In München gab es nicht genügend Personal für den Zug nach Essen. Das musste erst aus der etwa 500 Kilometer entfernten Bundeshauptstadt angekarrt werden. Halleluja! Mit erheblicher Verspätung ging es dann endlich los, nachdem das frische Personal eingecheckt hatte.
Trotzdem startete ich in hoffnungsvoller Erwartung schon bald den nächsten Versuch und erlebte die nächste Lektion aus dem unerschöpflichen Füllhorn ›Abenteuer Bahn‹: Wegen Krankheit waren zwar viele Lokführer zu Hause geblieben, so dass bei der Nordwestbahn fast alle Züge zwischen Bottrop und Essen ausfielen; aber die S 9 fuhr wenigstens. Die Sache mit der falschen Zugreihung muss ich eigentlich nicht besonders erwähnen. Sie klingt beinahe langweilig, da sie in Band 1 bereits zweimal für den Hauptpreis in der Kategorie ›Unfassbares aus Schotterbett und Schiene‹ nominiert war. Ob Sie es glauben oder nicht: Sowohl in Essen als auch beim Umsteigen in Würzburg passierte es wieder, nur noch perfider. Sind die eigentlich betrunken, wenn die Mitarbeiter die Züge morgens zusammenstellen? Können die links von rechts oder vorne von hinten nicht unterscheiden? Das schafft doch jeder halbwegs dressierte Schimpanse, möchte man meinen. Nach dem Einsteigen in Essen stellte sich jedoch heraus, dass die Reihung heute entgegen der Lautsprecherankündigung doch richtig herum gelungen war, so dass ich vergebens auf Geheiß des Bahnhofssprechers die etwa 400 Meter von Block G zu Block A gesprintet war. »Tut mir leid«, murmelte die Zugbegleiterin vor sich hin, als ich sie fragte, warum mein Wagen nicht zu finden sei. »Schaffen Sie jetzt nicht mehr vor Abfahrt. Da steigen Sie am besten in Duisburg wieder aus und laufen außen zu Ihrem Wagen ans andere Ende des 2. Zugteils. Tut mir wirklich leid.« Den letzten Satz hatte sie im Laufe der Schicht bestimmt schon Dutzende Male benutzt, so geleiert, wie er daherkam. Ich weiß jetzt endlich, warum so viele reservierte Plätze frei bleiben. Die Bahn schafft es, mit dem hausgemachten Verwirrspiel die Fahrgäste grundsätzlich in die falschen Waggons zu bringen. Das ist doch spannender als jedes Memory-Spiel, bei dem es nur um zwei Kärtchen geht, die gefunden werden müssen. Bringen Sie dagegen mal Gleis, Zugnummer, Block, Zugwagen und Sitzplatznummer zusammen. Rein mathematisch ergeben sich unendliche Kombinationen. Sie werden in der Regel scheitern. Und demnächst werde ich wohl vorher ein Lauftraining absolvieren.
Das Chaos ging mühelos weiter: Der vermeintliche Alleskönner-Höllenautomat im Bordbistro spuckte wegen eines technischen Fehlers nur Kaffee und Tee aus. Der von meiner Sitznachbarin angefragte Kakao war nicht herzustellen; Kaltgetränke aller Art sowieso nicht. Immerhin war aber überhaupt etwas Trinkbares im Angebot, ganz im Gegensatz zur Fahrt im Jahr 2016, als die Zugbegleiter leider nicht die richtigen Schlüssel für das Bistro bei sich hatten und es daher geschlossen bleiben musste. Ich sehe da eine kleine positive Entwicklung. Nun las ich aber, dass die Bordbistros in den alten IC-Zügen ausgemustert werden sollen, da sie zu störanfällig seien. Habe ich also doch richtig beobachtet!
Die Fahrt in der ersten Klasse war übrigens beim Buchungsvorgang als preislich günstiger ausgeworfen worden, so dass ich mich dafür entschieden hatte. Den Grund für den Sonderpreis kenne ich jetzt. Die Toiletten in der 1. Klasse waren nämlich sämtlich defekt, so dass man sich auf eine kleine Wanderung begeben musste, wenn man mal musste.
Zur Entschädigung hatte die Bahn cleverer Weise einen unentwegt grinsenden Mitarbeiter auf die Reise durch die Gänge geschickt, der in seiner Bahnuniform und mit seiner Föhnwelle aussah wie ein frisch gebadeter Liftboy (Anleihe vom grandiosen Liedermacher Ulrich Roski). Dieser reichte den Reisenden, deren Nerven mittlerweile blank lagen, ein Schokoladentäfelchen auf Kosten der Bahn, quasi als Nervennahrung. Und genau der war auch nachfolgend dafür eingeteilt, die Reisenden zu beruhigen, als sich die Verspätung allmählich dahin bewegte, dass Anschlusszüge definitiv nicht mehr erreicht werden konnten.
Ich hatte diesmal einen Zug gewählt, der von Würzburg bis Bad Reichenhall durchfahren sollte, zumindest, wenn man dem Fahrplan Glauben schenkte. Dass Papier geduldig ist, konnte spätestens an diesem Tag verifiziert werden. In Höhe Rosenheim wurden wir ruckartig langsamer, so dass Radfahrer den Zug auf der parallel zur Trasse laufenden Straße mühelos überholten. Mit Tempo 30 tuckerten und ruckelten wir am Chiemsee entlang. Wie sich herausstellte, gehörte das spontan eingebaute Sightseeing der besonderen Art nicht zum geplanten Sonderprogramm der Bahn, sondern war auf einen technischen Defekt der Lok zurückzuführen. Ich nahm es positiv als kleine Entschädigung für die Unannehmlichkeiten an. Vor Jahren hatte ich am Bahnhof Übersee schon einmal eine halbe Ewigkeit wegen eines Problems mit einer Lok verbracht. »Endstation Freilassing« war in Höhe Teisendorf schließlich die ernüchternde Meldung; ausnahmsweise natürlich nur. Man würde sich selbstverständlich um einen Ersatzbus im sogenannten Schienenersatzverkehr kümmern. Kurz vor der unfreiwilligen Endstation, bis zu der es die Lok gegen 15.45 Uhr noch quälend schaffte, wurde bestätigt, dass der Bus um 16.04 Uhr käme. An der Bushaltestelle vor dem Bahnhofsgebäude versammelten sich circa siebzig hoffnungsfroh gestimmte Menschen im heftigen Schneefall. Der einzige, der nicht zur Gruppe hinzustieß, war der Bus, zumindest nicht bis 16.45 Uhr. Also zurück in den Bahnhof, wo der nächste Zug Richtung Bad Reichenhall heute ausnahmsweise von Gleis 4 statt von Gleis 1 abfuhr, was im letzten Moment durchgesagt wurde. Im Bahn-Deutsch heißt das: eingeschränkte Gleisverfügbarkeit. Also rannten alle wie bei einer Polonaise – nur mit wesentlich ernsterer Miene als im Fasching - durch den Fußgängertunnel zu Bahnsteig 4. Puh, geschafft! Der Regionalzug brachte mich dann mit Verspätung, aber immerhin trockenen Fußes, ans Ziel. Hatte ich ein Glück, dass nicht ausgerechnet an dem Tag noch gestreikt wurde!
Bei meinen ab und zu getätigten Recherchen stelle ich übrigens fest, dass der IC Königssee, der täglich von Hamburg nach Berchtesgaden und retour fährt, in ganz vielen Fällen aus den unterschiedlichsten Gründen erhebliche Verspätung hat oder gar nicht am Ziel ankommt. ›Verspätete Bereitstellung‹, ›Reparatur am Zug‹, ›Behördliche Maßnahme‹ oder ›Verspätung eines vorausfahrenden Zuges‹ sind nur einige davon.
Zum Schluss kommt das Sahnehäubchen schlechthin: Da las ich doch, dass es tatsächlich bis Ende 2023 in Hamburg - München und andere Städte hatten das Kuriosum schon zuvor abgeschafft - sogenannte Bahnsteigkarten gab, die man kaufen musste, wenn man jemanden zum Zug bringen oder vom Zug abholen wollte, also die Bahnsteige betreten wollte. Ernsthaft. Die kosteten 10 Cent und gestatteten das Betreten der eigens gekennzeichneten Bereiche auf den Bahnhöfen. Hatte man diese Karte nicht, war man – wohlgemerkt - schwarzgefahren. Es wurden 60 Euro fällig, und man beging offiziell eine Straftat! Zum Zwecke der Überprüfung gab es tatsächlich Kontrolleure, die sich darum kümmerten, wobei im Jahr 2022 stolze 1097 Verstöße geahndet wurden. Fahrendes Personal dagegen fehlt offensichtlich an allen Ecken und Kanten. Die Bahn sollte mal Plakate wie bei den Kirmesleuten aushängen: »Junger Mann zum Mitreisen gesucht!«